Ist Zeit relativ oder universell?

Jüngere Erkenntnisse der empirischen Sprachforschung zum Thema Zeit

(Jolina und Christopher, LK Wengler)

Könnten Sie sich vorstellen, wie es wäre, wenn unsere Sprache keine Zeitformen hätte? Wenn wir nicht wirklich darüber reden könnten, was wir gestern getan haben, unsere Eltern uns nie hätten Märchen erzählen können und wir immer nur im Präsens reden würden? Wie würden wir dann über die Zeit denken? Dahinter steht die große Frage, inwiefern die Sprache und das Denken zusammenhängen, mit der sich Philosophen, Psychologen und Linguisten schon seit Jahrhunderten beschäftigen. Zwei extreme Sichtweisen lassen sich gegenüberstellen: die der Relativisten und die der Universalisten.

Der Relativismus steht für die Annahme, dass wir die Sprache brauchen um Gedanken zu denken und die Sprache das Denken in der Form eines Abhängigkeitsverhältnisses beeinflusst. Beim Universalismus geht man davon aus, dass die Sprache lediglich dazu da ist, um Gedanken auszudrücken und jedem Menschen die gleiche Universalgrammatik angeboren ist. Das Denken ist nach dieser Sicht unabhängig von der Sprache. Die Realität liegt wahrscheinlich irgendwo zwischen diesen beiden Beschreibungen. Klar ist, dass Sprache und Denken eine sehr enge Beziehung zueinander haben.

Sieht man die Sprache als regulären Teil des Denkprozesses, wobei aber das Denken und die kognitive Fähigkeit die Voraussetzung für das Sprachverständnis darstellen, zeigt sich ein Schwachpunkt der Universalgrammatik: der Spracherwerb bei Kindern. Es wird nämlich behauptet, dass Kinder mit der Fähigkeit geboren werden, Sätze nach grammatisch korrekten Regeln zu formen, Kinder benutzen jedoch zu Anfang nur simple grammatische Satzkonstruktionen wie „Ich will ...“ o.ä. Universalisten erklären diese Tatsache damit, dass Kinder zwar von Geburt an eine gewisse Sprachkompetenz besitzen, diese aber von anderen Faktoren wie unvollkommener Reife des Gedächtnisses beeinflusst wird.

Doch wie ist es mit dem Denken über die Zeit? Ist das bei jedem Menschen angeboren und dementsprechend gleich oder beeinflusst unsere erlernte Muttersprache, wie wir über die Zeit denken? Damit beschäftigte sich unter anderem der Linguist Benjamin Lee Whorf, welcher Forschungen in Bezug auf die Hopi-Indianer und deren Sprache durchführte. Laut ihm haben die Hopi nämlich kein Tempussystem, also keine Verbformen, die auf die Zeit bezogen sind, und kennen daher keinen Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie müssten das Universum ohne Rückgriff auf einen Begriff dimensionaler Zeit beschreiben können. Statt z.B. die Wörter eilig oder schnell zu verwenden, benutzen sie Ausdrücke wie intensiv oder sehr. Zeit ist für sie keine Bewegung sondern eher ein Späterwerden. Whorf vertrat die Auffassung, dass die Hopi überhaupt keine sprachlichen Möglichkeiten zur Bezugnahme auf die Zeit haben und dass sie diese deshalb auch nicht als gleichmäßig fließend sehen können, so wie wir es tun
Sind diese mittlerweile ziemlich alten Forschungen von Whorf in der heutigen Zeit überhaupt noch tragfähig? Eher nicht, denn ca. 40 Jahre später schrieb der Linguist Ekkehart Malotki ein 677 Seiten langes Buch über die etlichen zeitbezogenen Ausdrücke der Hopi-Sprache und deren Tempussystem. Die Sprache muss sich also im letzten Jahrhundert stark verändert haben, noch wahrscheinlicher ist allerdings, dass Whorf keine ausreichenden Quellen für seine Beobachtungen hatte. Heute versuchen Ethnolinguisten viel tiefer in die Sphäre einer Sprachgemeinschaft einzudringen als Whorf dies noch für notwendig erachtete.

Was jedoch immun gegen jegliche Fakten ist, ist der Gedanke, dass das Tempussystem einer Sprache auch das Zeitverhältnis ihrer Sprecher bestimmt. Dies zeigten mittlerweile andere Studien, beispielsweise als man verschiedensprachigen Menschen jeweils Bildfolgen gegeben hat, die sie zeitlich sortieren sollten. Deutsch- oder Englischsprachige Personen sortierten die Bilder von links nach rechts, Arabischsprachige sortierten eher von rechts nach links, also immer in die jeweiligen Schreibrichtung. Ein Aborigine-Stamm hingegen sortierte, egal in welche Richtung sie saßen, immer von Osten nach Westen, also immer mit dem Verlauf der Sonne. Es hat sich gezeigt, dass Menschen, die solche Sprachen sprechen, in denen räumliche Verhältnisse mit absoluten Richtungsbezeichnungen beschreiben (z.B. „Osten“, „Westen“, „flussaufwärts“), eine viel bessere geographische Orientierung haben, als Menschen, die relative Beschreibung nutzen (z.B. „links“, „vorne“). Für uns liegt auch die Zukunft automatisch vorne und die Vergangenheit hinter uns, doch auch das ist nicht in jeder Sprache so. Während z.B. englischsprachige Menschen ihren Körper beim Sprechen über die Zukunft unbewusst nach vorne, und Beim Sprechen über die Vergangenheit nach hinten neigen, deuten die Aymaras vor sich, wenn sie über die Vergangenheit reden, und hinter sich, wenn von der Zukunft gesprochen wird.

Damit lässt sich doch sagen, dass die Art wie wir über die Zeit denken, stark davon beeinflusst wird, welche Sprache wir sprechen.

Kommentare

  1. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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  2. Frau Wengler, mein Name war tatsächlich kein Rechtschreibfehler, da muss ich sie enttäuschen.

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    1. Korrigiert! Ich bitte nochmals um Verzeihung! ;-) CW

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  3. Ich finde euren Blogartikel gut gelungen, da ihr vor allem in eurem Anfang viele Fragen gestellt habt und im Verlaufe des Artikels gute Beispiele und Argumente gegeben habt. In eurem Ende erwähnt ihr auch den Stamm der Aborigines, der besonders wichtig in dem Artiken von Duygu und mir ist.

    Der Stamm der Aborigines besitzt einen quasi inneren Kompass, damit sie immer wissen, wo welche Himmelsrichtung ist. Besonders spannend finde ich, dass sie Bilder in der zeitlichen Reihenfolge, von osten nach westen, sortieren. Warum aber sortieren sie die Bilder nicht von norden nach süden? Und wenn einer die Bilder in der zeitlichen Reihenfolge von osten nach westen aufgeklebt hat, und es dann ein anderer aber aus seiner Sicht von norden nach süden ließt, ist es dann falsch?

    Ihr habt meiner Meinung nach den Blogartikel so gut hinbekommen, dass man sich selber Gedanken darüber macht und Sachen hinterfragt, auf die es möglicher Weise gar keine Antworten gibt, was das ganze eben interessant macht.

    Carla

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  4. Eure Fragen am Anfang haben mich wahnsinnig neugierig gemacht, das Volk was ihr erwähnt habt scheint sehr intressant zu sein, mit ihrem inneren Kompass. Man macht sich echt viele Gedanken,nach dem Lesen von eurem Blogartikel. Dieser ist euch echt gut gelungen.
    Elias

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